Freitag, 4. Februar 2011

Neuköllner Stolpern


Stolpern bringt aus dem Gleichgewicht. Was folgt, ist zumeist eine kurze, spontane Laien-Choreographie. Heftiges Rudern mit den Armen, Ausfallschritte, ein Hin und Her mit dem Oberkörper. Der Kopf kurzfristig abgeschaltet, alle Konzentration auf’s Wesentliche gerichtet: Den Ausgangszustand wieder herstellen. Gleichgewicht, Gradegehen, sein Ziel erreichen. Absichtsvoll gelegte Stolpergründe müssen sich „erklären“. Kommen sie glänzend daher, wollen sie den Kopf, nicht den Körper. Deutlich vom grauen Kopfsteinpflaster abgehoben, fallen sie auf: Die Stolpersteine. Mit der Gravur betritt man Namen und Daten. Hinweis auf Lebensgeschichten, die sich mit dem Haus verbinden, vor dem sie ins Pflaster eingelassen sind. Unaufdringlich aber andauernd erinnern sie an eine gern vergessene Dimension des Faschismus. Es waren Nachbarinnen und Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger, die man gezeichnet, drangsaliert, entrechtet, beraubt, schließlich aus dem Haus geschleppt und ermordet hat. Die Steine rücken das Erinnern in die Mitte. In den Alltag. Wo es hingehört. Insbesondere in Deutschland. Wo die Mitte gern beschworen, aber vergessen wird, dass die „Zeit“ zwischen 1933 – 1945 ein Projekt der Mitte war. Organisiert, getragen, ideologisch ausstaffiert und finanziert von den damaligen alten wie neuen konservativen Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Heer und staatlicher Bürokratie. „Ränder“ mögen seismographische Funktionen haben. Sie besitzen aber weder die Kraft, noch das nötige „Know-How“, um Gesellschaften zu bewegen. Gefahr ist im Verzug, wenn, wie Heitmeyer u.a. jüngst beschrieben, in den „oberen Etagen“ eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ Fuß fasst und in eine aggressive, „rohe Bürgerlichkeit“ mündet. Ihr Fazit: „Bildung wirkt der Abwertung nicht entgegen“. Man kann es auch so ausdrücken, wie Jack Terry es vor wenigen Tagen in einem Interview tat. "Im Land von Schiller und Goethe und Kleist kann man sehen, dass Literatur und Kultur die Menschen nicht unbedingt humaner machen. Wenn ein Nazi den ganzen Tag lang Babys töten kann und nach Hause kommt und Beethoven oder Mozart hören kann, wie wollen Sie das erklären?" Jonathan Littell hat’s versucht. Sein voluminöses Werk - Die Wohlgesinnten - „imaginiert“ Geschichte, fußt auf präzise recherchierten Daten, Biographien, zeitgeschichtlichen Abläufen und veröffentlichten Forschungsergebnissen. Littell erzählt die Jahre 1941 – 1945 aus Sicht eines SS-Offiziers, Akademiker, Bach - Liebhaber. So wenig, wie der Roman „wahr“ ist und sein will, so viel „Wahrheit“ bringt er „an den Tag“. Es sei jeder und jedem empfohlen, die verstehen wollen, wie ein (klein)bürgerliches (Kultur)Milieu profanen Alltag, industrialisiertes Morden und Krieg „synchronisiert“. Ganz Mitte. Vor'm Haus, sozusagen, wo heute die Steine liegen. Das Neuköllner Kulturamt hat dankenswerterweise aus dem „Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ die Daten herausgefiltert, die sich auf Neuköllner Bürgerinnen und Bürger beziehen. Reinschauen.

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